Bistum Hildesheim

Neue Studie: Kirchenbücher und NS-„Sippenforschung“
Die neue Studie von Maik Schmerbauch untersucht am Beispiel des Bistums Hildesheim exemplarisch einen bedeutenden Aspekt der Archivgeschichte der katholischen Kirche im „Dritten Reich“. Anhand von zahlreichen Dokumenten aus themenbezogenen Archiven, so vor allem dem Bistumsarchiv Hildesheim, dem Niedersächsischen Landesarchiv und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, geht der Autor der Frage der Bedeutung der Kirchenbücher für die nationalsozialistische „Sippenforschung“ nach.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bekamen im Bistum Hildesheim wie in den vielen anderen deutschen (Erz-)Bistümern die Kirchenbücher eine wichtige Rolle zum Nachweis der „arischen Abstammung“. Bürger, die im nationalsozialistischen Staat ihre Position im öffentlichen Dienst behalten oder „Karriere machen“ wollten, mussten ihre „arische Abstammung“ Generationen zurück nachweisen. Dies war für die Zeit vor 1874 nur durch die Einträge in den alten Kirchenbüchern möglich war. Tausende Anträge auf Kirchenbuchauszüge für den notwendigen „Ahnenpaß“ wurden seit 1933 an die Pfarrgemeinden gestellt, die mit dieser Arbeit oft hoffnungslos überfordert waren.
Aus diesem Grund und zum Schutz der Kirchenbücher vor unberechtigtem Zugriff ließ der Hildesheimer Bischof Joseph Godehard Machens 1935 ein Kirchenbucharchiv am Domhof 15 einrichten, in das der größte Teil der Kirchenbücher aus den Pfarrgemeinden übernommen wurde. Die Leitung wurde einem pensionierten Priester übertragen, der fast bis Kriegsende 1945 die vielen Anträge mit Mitarbeitern bearbeitete.
Das Werk nimmt zunächst einen Rückblick auf die Bedeutung der Kirchenbücher als archivalische Quellen und schildert die einzelnen Schritte, die zur Errichtung des Kirchenbucharchivs führten. Die Arbeit der Einrichtung am Domhof mit den „Sippenforschern“, die Sorge um den Erhalt der Kirchenbücher wie auch die Prozesse der Vernetzung im politischen Bereich werden ausführlich dargestellt. Ebenso wird der Errichtung einer Archivpflege in anderen (Erz-)Bistümern Aufmerksamkeit gegeben. Die Arbeit des Kirchenbucharchivs im Krieg, Aktionen von Widerstand gegen das System der „Sippenforschung“ sowie die waghalsige Rettung der Hildesheimer Kirchenbücher nach der Zerstörung der Rosenstadt im März 1945 werden beschrieben. Ein umfangreicher Dokumentenanhang bietet die Möglichkeit zum Studium bedeutender Quellen zum Thema.
Im Ergebnis weist die Studie nach, dass die katholische Kirche im Bistum Hildesheim sich in einem formalen Geflecht verschiedener Institutionen staatlicher Stellen auf Reichs- bis auf Lokalebene befand, die an der „Sippenforschung“ beteiligt waren. Daraus ergab sich eine bestimmte „Systemrelevanz“ der katholischen Kirche für die Nationalsozialisten, in die man letztlich im Gegensatz zu vielen anti-kirchlichen Maßnahmen und Verboten nicht vollends intervenierte, und die Kirchenbücher deshalb nicht beschlagnahmte. In Hildesheim waren sich der Bischof, die Diözesanadministration und der Leiter des Kirchenbucharchivs stets im Klaren darüber, dass der staatliche Einfluss auf die Kirchenbücher zum Schutz der Kirchen und auch der Menschen, zumindest wo es möglich war, zu begrenzen sei. Man widersetzte sich in Einzelfällen nachweislich staatlichen Forderungen, ohne die bereits stark verfolgte Kirche noch zusätzlich zu gefährden.
Für die Archivgeschichte des Bistums Hildesheim war die Existenz des Kirchenbucharchivs ein bedeutender Meilenstein zur Sicherung der Kirchenbücher und angrenzender historischer Überlieferungen, wenn auch ein streitbares Phänomen der oft so fatalen Kirchengeschichte des „Dritten Reiches“. Das Bistum Hildesheim hat sich in der Frage der Kirchenbücher, wo es im totalitären NS-Staat möglich war, staatlichen Einflüssen taktisch entgegengestellt, gänzlich verhindern konnte man die Ausstellung von Urkunden und Kontakte zu NS-Stellen im System der „Sippenforschung“ aber nicht.
Maik Schmerbauch, Die Kirchenbücher und die nationalsozialistische „Sippenforschung“ im Bistum Hildesheim. Eine Studie zum kirchlichen Archivwesen im Dritten Reich 1933-1945; Reihe: Zivilisationen & Geschichte, Band 78; hrsg. von Ina Ulrike Paul und Uwe Puschner, Peer-Review-Reihe; ISBN 978-3-631-89156-8; Berlin 2023, 373 Seiten
Text: Maik Schmerbauch